Männlichkeit dekonstruktiv lesen

04 fév. 2022
Männlichkeit dekonstruktiv lesen

Artikel auf Deutsch
Auteur: Katja Taylor

Wie wird Männlichkeit in der zeitgenössischen Literatur verhandelt? Was sagt das über unsere heutige Gesellschaft aus? Mit diesen Fragen hat sich Claire Schadeck, aktuell politisch Beauftragte des CID Fraen an Gender, in ihrer Masterarbeit auseinandergesetzt. Dort hat sie Männlichkeitsentwürfe im 2015 erschienenen Roman A Little Life von Hanya Yanagihara analysiert. Wir führten mit ihr ein spannendes Gespräch über die Darstellung von Männlichkeit(en) in der Literatur und im realen Leben.  

Claire, in Deiner Masterarbeit hast Du Männlichkeitsentwürfe im Roman A Little Life von Hanya Yanagihara untersucht. Warum hast Du Dich für dieses Buch entschieden?

Als ich den Roman zum ersten Mal gelesen habe war ich sehr überrascht, dass dort so viele männliche Figuren erscheinen. An sich ist es gar nicht so überraschend, denn männliche Protagonisten sind weit verbreitet in der Literatur. Im Roman wird aber nicht der klassisch heterosexuelle weiße cis-Mann vorgestellt, sondern auch andere Männlichkeitsentwürfe. Homosexualität wird sehr stark thematisiert sowie auch Drogen- und Alkoholkonsum, Trauer und Traumata. Das fand ich spannend und berührend.

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Hanya Yanagihara, A Little Life, 2015 © Doubleday

Wie bist Du in Deiner Literaturanalyse vorgegangen?

Ich habe mich am Konzept der hegemonialen Männlichkeit von der Sozialwissenschaftlerin Raewyn Connell orientiert. Nach Connell gibt es verschiedene Formen von Männlichkeit. Es gibt eine Seite, die unterdrückt, und eine, die dominiert. Beide Seiten können nur durch die jeweils andere bestehen. Wenn diese interagieren etabliert sich eine Form von unterdrückter und von dominierender Männlichkeit. Ich wollte herausfinden, ob die uns bekannte hegemoniale Männlichkeit im Roman aufgebrochen wird. Den Text habe ich dekonstruktiv gelesen, das heißt ich habe Differenzkategorien wie zum Beispiel Sexualität, Klassenverhältnisse, Ethnizität und „Ability“ identifiziert und analysiert, welcher Teil der Opposition als normativ verhandelt wird und welcher Teil als anders.

Was hast Du dadurch entdeckt?

Ich habe entdeckt, dass Identitäten immer fluide sind. Eine Person verkörpert nie zu hundert Prozent Hegemonie und nie zu hundert Prozent Unterdrückung. Das sehen wir auch in unserer Realität. Wir verfügen über verschiedene Eigenschaften, die unsere Identität ausmachen. Aspekte davon unterdrücken uns und andere geben uns eine privilegierte Position.

Nehmen wir das Beispiel vom Protagonisten des Romans, Jude. Aufgrund seiner Behinderung ist er in der Kategorie „Ability“ – das, was als gesunder oder funktionierender Körper wahrgenommen wird – unterdrückt. Aber in Relation zu seinen schwarzen Freunden rückt er als weißer Mann, der später auch finanziell sehr erfolgreich ist, in eine privilegierte Position, was Ethnizität und Klasse angeht. Er verkörpert also unterdrückte und hegemoniale Männlichkeit zugleich. Das ist bei allen Figuren der Fall. Es braucht immer das andere um sich selbst zu konstruieren. Jude würde nicht als „disabled“ gelten, wenn es die Idee von „able-bodied“ nicht geben würde. Wir stellen uns immer einer Norm. Wenn wir dieser nicht entsprechen werden wir unterdrückt.

Das Hauptergebnis meiner Analyse war, dass im Roman immer wieder versucht wird, die hegemoniale Männlichkeit aufzubrechen, indem alternative Konzepte vorgestellt werden. Die dominante Form von Männlichkeit wird aber trotzdem auch gefestigt und reproduziert. Weibliche Figuren sind zum Beispiel sehr selten. Wenn sie vorkommen werden sie immer aus der männlichen Sicht und in Relation zu einer männlichen Figur beschrieben, also die Tante oder die Mutter von dieser oder jener Figur.

Wirasathya Darmaja. Hanya Yanagihara A Little Life. Neka Museum.

Hanya Yanagihara via Wikimedia Commons

Ist es dabei wichtig zu wissen, dass die Autorin des Romans eine Frau ist?

Als ich das Buch zum ersten Mal gelesen habe war ich felsenfest davon überzeugt, dass der Autor ein Mann ist! Inzwischen ergibt es aber für mich Sinn, dass eine Frau den Roman geschrieben hat. Der Fokus liegt nämlich sehr stark auf Emotionen und auf Aspekten von „Care“ – Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft als feminin konnotiert werden. Die Figuren kümmern sich intensiv umeinander. Traumata und die Psyche der Protagonisten werden auch sehr detailliert beschrieben. Diese Aspekte werden ohne Scheu und Angst vor der Verweiblichung der Figuren beschrieben, was ungewöhnlich ist.

Vor allem den homosexuellen Figuren werden weiblich konnotierte Emotionen wie Angst oder Scham zugeschrieben. Auf den ersten Blick kann das als Versuch von Dekonstruktion interpretiert werden, gleichzeitig aber ist es eine Reproduktion hegemonialer Männlichkeit, da die Figuren im Moment, in dem sie diese Emotionen äußern, in der Erzählung unterdrückt werden oder auch schlechter wegkommen. Das Buch ist daher ein gutes Beispiel dafür, wie es uns selber nicht immer gelingt, unsere Vorurteile und Stereotypen aufzubrechen.

In den letzten Jahren sind mehrere Bücher erschienen, die hegemoniale Männlichkeitsentwürfe in Frage stellen. Ich denke an den Debütroman vom vietnamesisch-amerikanischen Lyriker Ocean Vuong On Earth We’re Briefly Gorgeous (2019) oder die Gedichtsammlung Eyes Bottle Dark with a Mouthful of Flowers (2019) vom Diné-Autor Jake Skeets, der dafür den American Book Award 2020 gewonnen hat. Hängt da irgendwas in der Luft?

Ich denke schon. Zurecht lag im feministischen Diskurs lange Zeit der Fokus auf der Darstellung von Frauen. Wir hatten wenig Raum in der Kultur, weder als Kulturschaffende noch als selbständig agierende Protagonisten. In den letzten Jahren merke ich aber sowohl im feministisch-politischen Diskurs als auch in der Kultur, dass immer mehr junge Männer sagen: „Wir wollen feministisch und solidarisch sein und wir leiden auch unter diesem heteronormativen Konstrukt.“ Literatur und Kunst ist ein sehr gutes Medium dafür. Man merkt, dass dort Identitäten und Stereotypen immer stärker kritisiert werden. Wir verlangen ja auch inzwischen von Männern, dass sie sich gefälligst positionieren sollen und fragen: „Wo seid ihr alle? Ihr könnt doch nicht alle damit einverstanden sein.“ Und jetzt gibt es eben einige, die darauf reagieren.

Ocean Vuong via Wikimedia Commons

Ocean Vuong via Wikimedia Commons

Warum eignet sich Literatur für eine Analyse von Männlichkeits- oder Geschlechtsentwürfen?

Weil es mit Literatur einfacher ist zu zeigen, wie etwas entsteht. Wir nehmen die Figuren als fiktiv wahr und erkennen, dass sie konstruiert sind. Wie die Figuren im Roman, werden auch wir im realen Leben konstruiert. Dass wir mit einem Geschlecht zur Welt kommen und dieses Geschlecht bestimmte Sachen von uns verlangt, die wir erfüllen müssen, ist in meinen Augen schlichtweg nicht wahr. Männlichkeit und Weiblichkeit befinden sich in einem ständigen Wandel. Es ist nicht alles in Stein gemeißelt. Was vor 20 Jahren noch als Weiblichkeit galt wird heutzutage angefochten, die Menschen wehren sich dagegen. Es wäre schön, wenn wir aufhören würden, uns daran festzuhalten, was vermeintlich männlich oder weiblich ist. Wir müssen Differenzen aushalten können, wir müssen nicht alle einer Norm entsprechen.

Warum ist es wichtig, verschiedene Geschlechtsausdrücke in der Literatur zu präsentieren?

Weil wir uns immer mit etwas identifizieren, vor allem als Kinder. Wenn wir immer nur ganz bestimmte Formen von Geschlecht sehen dann suggeriert das automatisch, dass es nur das eine gibt. Das ist problematisch, insbesondere wenn diese Form toxisch ist und wir toxisches Verhalten als normal anerkennen. Dann leiden unsere Beziehungen darunter. Wie viele heterosexuelle Beziehungen scheitern an ungleichen Macht- oder Dominanzverhältnissen oder daran, dass nur eine Seite gelernt hat, Emotionen zu kommunizieren, während der anderen Seite vermittelt wurde, Stärke und Unabhängigkeit auszustrahlen? Es liegt in unserer Verantwortung als Kulturschaffende Alternativen zu zeigen.

Claire Schadeck hat letztes Jahr ihre Arbeit im Rahmen der Lunch Knowledge Shots des CID Fraen an Gender präsentiert, eine Kurzvorstellung findet sich hier.

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