Von text adventure bis KI-Lyrik: Elektronische Literatur im Fokus

30 nov. 2021
Von text adventure bis KI-Lyrik: Elektronische Literatur im Fokus

Artikel auf Deutsch
Auteur: Katja Taylor

Wie sieht Literatur aus, die im und für den digitalen Raum entwickelt wird? Das finden wir im Gespräch mit Yorick Schmit heraus. Der Digital Curator sammelt, archiviert und katalogisiert tagsüber digital-born Luxemburgensia in der Nationalbibliothek, in seiner Freizeit aber interessiert er sich für elektronische Literatur und führt KI-Experimente mit Luxemburger Werken durch. Was genau elektronische Literatur ist und wie Schmits Experimente ausgegangen sind? Das findet ihr gleich heraus…

Literarische Werke im digitalen Raum

Elektronische Literatur bezeichnet Texte, die in digitaler Form entstehen und für das Lesen auf dem Computer, Tablet oder Smartphone konzipiert sind. Demzufolge ist es auch schwierig bis unmöglich, diese Art von Literatur auf Papier zu drucken. Die Texte sind nämlich oft interaktiv und vernetzt angelegt, d.h. Leser*innen können sie mitgestalten und gelangen durch Verlinkungen zu weiteren Inhalten. Eine der ersten Formen elektronischer Literatur entstand in den 1970er Jahren im Bereich der Videospiele, als es noch keine Möglichkeit gab, aufwendige Grafiken darzustellen, so Schmit.

In den textbasierten Spielen namens text adventure werden Welten beschrieben, mit denen Spieler*innen interagieren können. Bei Colossal Cave Adventure von 1976 kann beispielsweise eine Höhle erkundet und einen Schatz entdeckt werden und in der text adventure-Version des Sci-Fi Klassikers The Hitchhiker's Guide to the Galaxy von 1984 können Fans des Buchs die Geschichte auf interaktive Art und Weise erleben. Spieler*innen erteilen dabei Befehle, die sie in ein Textfeld eintippen, oder wählen aus vordefinierten Optionen einen Handlungsstrang aus. Somit können sie interaktiv in die Erzählung eingreifen, entscheiden, was der Protagonist als Nächstes macht, oder den Schluss der Geschichte bestimmen. „Mich interessiert, wie das die Erzählprozedur verändert,“ merkt Schmit an. Wie ändert sich zum Beispiel unsere Leseweise, wenn wir mit Text auf dem Bildschirm interagieren?

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Colossal Cave Adventure auf einer VT100-Konsole via Wikimedia Commons

Seit den 90er Jahren ist diese Form literarischer Narrative, auch interactive fiction genannt, aus dem kommerziellen Raum fast verschwunden. Dennoch gibt es bis heute eine große Online-Community, die das literarische Genre aktiv vorantreibt. Auch Schmit würde gerne eines Tages ein text adventure selber schreiben und zwar auf Luxemburgisch: „Ich träume schon immer davon, bin aber noch nicht dazu gekommen!“ Falls Leser*innen jetzt schon Lust auf ein zeitgenössisches text adventure haben können AI Dungeon gleich ausprobieren. Im Gegensatz zu traditionellen Spielen, die auf vorgefertigte Inhalte zurückgreifen, nutzt AI Dungeon künstliche Intelligenz, um offene Handlungen automatisch zu generieren. Dabei wählt man zuerst die Welt, in der man spielen will. Diese reichen von fantasy oder mystery bis hin zu apocalyptic, zombies oder cyberpunk. Im eigentlichen Spiel stehen Spieler*innen dann drei Hauptinteraktionsmethoden zur Verfügung – do, say oder story.

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AI Dungeon: Ein Selbstversuch in der cyberpunk Welt mit einem Cyborg namens Drixie

Ein weiterer Begriff, der im Bereich der elektronischen Literatur verwendet wird, ist hypertext fiction. Diese Art von Literatur besteht aus vernetzen Textknoten, die zusammen eine Geschichte bilden. Ähnlich wie bei einer Enzyklopädie springen Leser*innen von einem Knotenpunkt zum nächsten mithilfe von Hypertext-Links. Somit wird eine nicht-lineare, interaktive Lesart gefordert. Im Gegensatz zur traditionellen Belletristik sind Leser*innen nicht gezwungen, die Geschichte von Anfang bis Ende zu lesen, sondern können selbst entscheiden, was sie als Nächstes tun möchten. Ob Hypertext-Novellen, SMS-Romane oder E-Books, bei elektronischer Literatur geht es darum, digitale Prozesse aus dem Alltag zu verwenden, um neue Geschichten zu erzählen.

KI-Experimente mit Luxemburger Prosa

In den sogenannten digital humanities werden KI-Programme häufig eingesetzt, um literaturwissenschaftliche oder linguistische Analysen durchzuführen, merkt Schmit an. Die hier benutzten Methoden können auch in einen kreativen Schreibprozess eingebunden werden. Zum Beispiel im Buch poesie.exe von Fabian Navarro: eine Lyrik-Sammlung, die Gedichte von Menschen und KI in einem Band versammelt. Dabei werden Leser*innen aufgefordert, die einen von den anderen zu unterscheiden. „Tatsächlich ist es fast unmöglich“, so Schmit. Denn KI-Programme können erstaunlich gut Lyrik schreiben, an Romanen scheitern sie jedoch. Das hängt mit ihrer Funktionsweise zusammen. Man stellt der KI nämlich einen riesigen Textkorpus zur Verfügung und daraus leitet sie statistische Wahrscheinlichkeiten über Wort- und Satzfolge ab. Die Syntax funktioniert deswegen ganz gut, aber die Semantik nicht immer. „Bei der zeitgenössischen Lyrik lässt sich dieser Mangel an narrativer Kohärenz jedoch gut verschleiern“, fügt Schmit hinzu.

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Einige Versuche anhand von Luxemburger Literatur hat der Digital Curator der Nationalbibliothek bereits selber unternommen. Daraus ist unter anderem das Gedicht Turing-Test entstanden: eine Mischung aus Textfragmenten von Hugo Gernsbacks Sci-Fi-Roman Ralph 124C 41+ von 1925 und den entsprechenden Antworten eines Chatbots. Oder The fox and the horseman: ein Gedicht, das von einem KI-Programm automatisch generiert wurde, ausgehend von einem Satz vom Buch Fox-trails, -tales & -trots von Pierre Joris. Auch hat Schmit versucht, eine KI mit dem Roman von Hugo Gernsback zu trainieren, das Vokabular und den Stil des Autors zu übernehmen. Dafür war das Buch jedoch viel zu kurz. „Man bräuchte hunderte von Büchern, um sowas zu machen, und die gibt es eben nicht,“ so Schmit. Das gleiche gilt für die KI, die er trainieren wollte, wie Michel Rodange zu schreiben. Aufgrund eines Mangels an verfügbaren Werken scheiterte auch dieses Experiment.

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Wie akkurat ein KI-Programm den Stil eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin reproduzieren kann ist folglich nur eine Frage von Datenmengen. „So viel Literatur gibt es nicht im öffentlichen Raum, da ist man schnell begrenzt,“ erklärt Schmit. Tatsächlich können Werke erst 70 Jahre nach dem Tod des Autors oder der Autorin frei benutzt werden. Auch hier stellt sich die Frage der Autorenrechte: Ist es bereits ein Copyright-Verstoß, wenn man einem KI-Programm mit den Texten eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin füttert? Haben sie einen Copyright-Anspruch auf das, was die Maschine rausspuckt? Das sind heikle Fragen, die sich im Zeitalter der Algorithmen immer häufiger stellen werden.

Auch könnte man fragen, ob Schreiben mit Einsatz von KI-Programmen überhaupt noch als kreative Tätigkeit gilt, gibt Schmit zu bedenken. Zum Beispiel ist im Gedicht The fox and the horseman von „windshaking manner“ die Rede. „Bei einem Menschen würde man sagen das wäre ein kreativer Umgang mit der Sprache, bei der KI war es wohl einfach ein Fehler.“ Letztendlich wird Literatur, die von Menschen geschrieben wird, einen höheren Stellenwert beigemessen wie Texte, die von Maschinen generiert werden – auch wenn es sich um den gleichen Text handelt. Kann man dann aber noch von objektiver Qualität oder wahrer Kunstfertigkeit reden, wenn nicht der Inhalt, sondern der Autor entscheidend ist? Hier wirft Schmit weitere grundsätzliche Fragen auf, mit denen wir uns in Zukunft auseinandersetzen müssen.

Schließlich geht es dem Kurator jedoch um einen zentralen Punkt: „Wie kann man diese Sprachtechnologien in der Literatur thematisieren, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal?“ Dabei sollten selbstverständlich Kontext und Entstehungsweise der Texte in den Rezeptionsprozess miteinbezogen werden. Somit wird das digitale Medium wirklich Teil des literarischen Austauschs.